„Mögen eure Tiere noch fetter werden“

Mitte Juli strömen Tausende Mongolen zu Speis, Trank und Kampf zusammen: Das dreitägige Naadam-Fest zum Geburtstag der Revolution 1921 ist eine Herausforderung für Mensch und Tier.

„Du sprichst sehr gut Deutsch“: Igoo, 37, ist fünf Jahre jünger als sein olivgrüner UOZ-Lieferwagen mit Blaulicht, den er seinerzeit der tschechischen Armee abgekauft hat. Er bewundert mich sehr. Danke, Igoo. Sein Vater war Maschinenbauer in Karl-Marx- Stadt, doch das ist lange her. Österreich? Schon mal gehört, liegt irgendwo in der Nähe dort. Zumindest rund um das große Naadam-Fest anlässlich des Jahrestags der mongolischen Unabhängigkeit, das jeden Juli Zigtausende Nomaden und Hunderte Touristen in die Stadien des Landes zieht, hat er Hochbetrieb und karrt Fremde durch die Steppe: Ringen, Bogenschießen und Pferderennen lassen Erinnerungen an Zeiten aufkommen, als Dschingis Khan Europa noch in Atem hielt.

Kaum zu glauben, dass Dschingis Khans Söhne von hier aus einst das größte reich der Welt beherrschten. Foto: Spreitzhofer

Festivitäten gibt es im ganzen Land, aber die Big Show findet in der Hauptstadt statt. Zu Naadam füllen sich die Türme des Bayangol-Hotels, und auch die Tore der klassizistischen Staatsoper öffnen bisweilen nur mehr durch knisternde Zuwendungen an die Garderobenfrauen, die stets noch ein Plätzchen auf zerschlissenem Plüsch organisieren. Das „Tumen-Ekh Ensemble National Song and Dance“ gibt wie immer sein Bestes: „O sole mio“, zum Beispiel, gedonnert von einer grün gewandeten Dschingis-Khan-Kopie, oder den Donauwalzer in der Fassung des mongolischen Symphonie-Orchesters. Europa ist den vielen koreanischen und japanischen Konzertbesuchern für Minuten näher als die Mongolei, die außerhalb der Hauptstadt fremd und unzugänglich bleibt. Naadam ist für das nordasiatische Steppenland wie Weihnachten und Ostern zusammen: Ordenbehangene Kriegsveteranen hoch zu Ross eskortieren dann die blau-roten Blasmusikanten in das Naadam-Stadion am Rande des Nairamdal-Parks, wo früher rostige Ringelspiele und schaurig-fette Schaschliks Feiertagsstimmung verbreitet haben. Doch das ist lange her. Nairamdal ist eigentlich einer der fünf Hauptgipfel im mongolischen Teil des Altai-Gebirges, über 4.000 Meter hoch. Heute heißt so der größte Themenpark der Mongolei, wo in den Toirog Zam, die brandneue Hochschaubahn mit ihren vier Kreiseln, nur einsteigen sollte, wer seinen täglichen fettbefreiten Fast-Food-Schaschlik schon gut verdaut hat. Radio Mongol ist jedenfalls da und ein Sonderpostamt für die Tourgruppen aus dem Nationaltheater von gestern Abend.

Bogenschützinnen sind Mangelware: Könnte
es daran liegen, dass sie 15 Meter vor den
Männern und damit in deren Schusslinie stehen? Foto: Daily Travel Photos/Shutterstock

Riesen gegen Zwerge

Hunderte Ringer treten im K.o.-System gegeneinander an, Riesen gegen Zwerge, ganz ohne Zeitlimit. Gelegentlich entfallen die Schlusszeremonien, weil die Recken in ihren kecken blauen und roten Höschen einander stundenlang belauern, anstatt den entscheidenden Griff zu setzen. Schließlich geht es um viel für die Idole des Landes, und wer will sich nicht mit bescheidenen Titeln wie „augenfälliger, national berühmter, mächtiger und unbesiegbarer Gigant“ schmücken wie der Arnold Schwarzenegger der Hauptstadt Ulaan Baatar (UB), ein seriensiegender Fleischberg mit der Popularität eines Popidols?

Sorondsonboldyn Battsetseg, 2015 Weltmeisterin im Ringen der Damen, gehört da eher zu den Leichtgewichten, denen man aber besser auch nicht im Groll begegnen sollte. Für Unbeteiligte ist das Bogenschießen nebenan eine größere Herausforderung, speziell bei Steppenwind, denn die Absperrung bildet meist ein wogender Menschenkordon: Traditionell gekleidete Schützen in „del“ (Wollmantel), „gutul“ (Lederstiefel) und „oovuz“ (Hut) schießen auf Ringe und Lederziegel am Boden, die in 75 Meter Entfernung von Kampfrichtern bewacht werden. Die Schussqualität wird mittels Tanz und Gesang an das Schiedsgericht durchgegeben, das die Trefferzahl penibel dokumentiert. Die Schützinnen müssen nur 60 Meter schießen, stehen damit aber 15 Meter vor den Männern und daher bisweilen in der Schusslinie der Männer, die oft schon den Finger am Abzug haben. Ein Wunder, dass Teilnehmerinnen Mangelware bleiben? Das Zielgebiet der Pferderennen liegt außerhalb der Stadt, wo sich schon Tage zuvor filzige Zeltstädte aus weißen Jurten gebildet haben. Die halbe Stadt scheint auf dem Weg hinaus nach Yarmag, ein hupender Stau aus ein paar hustenden Ladas und immer mehr schnurrenden japanischen Geländewagen. Ein echter Mongole hat ohnehin mehrere Pferde und ist nicht an Straßenbrücken gebunden, um die meist ausgetrockneten Flussbetten zu durchqueren – sie kommen von überall, aus dem Nirgendwo an der sibirischen Grenze und den Halbwüsten der Mandschurei, und sind über die heranbrausenden Staubwolken am Horizont genauso begeistert wie die Städter aus UB auf Feiertagsausflug. Es sind viele Rennen, für einjährige und fünfjährige Pferde, über 15 oder 30 Kilometer, Zieleinlauf ungewiss: zehn Uhr? Vielleicht auch Mittag. Egal. Die Reiter sind Kinder, um den Steppenpferden nicht mehr Gewicht aufzubürden als nötig. Gefeierte Sieger werden denn auch die Gäule und deren Besitzer, nicht aber die Reiter. Zum „tümny ekh“ (Anführer der 10.000) werden wohl nur die wenigsten der 2,7 Millionen Rösser der Mongolei.

Der Glaube an eine luxuriöse Zukunft fehlt
in den Jurten des landes: Hier ist bereits ein
batteriebetriebenes radio ein Zeichen von
Wohlstand. Foto: Spreitzhofer

Im Hauch der alten Zeit

Auch fast 30 Jahre nach der Wende lässt die Moderne auf sich warten. Fette Weiden und öde Steppen, sandige Wüsten und die kahlen Gipfel des Altai. 18 Mal größer als Österreich, nur 3,2 Millionen Einwohner, doch 30 Millionen Tiere: Weltreich ist die Mongolei schon seit Jahrhunderten keines mehr, die Reiterhorden des Mittelalters haben zwischen Europa und Pazifik ihren Schrecken verloren, und Ulaan Bataar hört inzwischen lieber auf UB. Der Glaube an eine luxuriöse Zukunft, wie sie der Upper Class von UB alltäglich von CCTV und CNN vorexerziert wird, fehlt in den Jurten des Landes, wo schon ein batteriebetriebenes Radio Zeichen von Wohlstand ist und die Ringerkönige aus der Hauptstadt bekannt und verehrt sind. Kaum zu glauben, dass Dschingis Khans Söhne von hier aus einst das größte Reich der Welt beherrschten.

Den Jungen ist’s egal – 40 Prozent sind jünger als 16, bereit für Chicago Bulls und Michael Jackson, der hier weiterlebt wie Lenin in so manchem Dorf an der sibirischen Grenze. Doch zu Naadam sind sie alle wieder da, und wiegen sich im Hauch der alten Zeit: „Mögen eure Tiere noch fetter werden“, lautet der traditionelle Gruß zwischen Altai und Gobi. Zumindest die Ringer haben sich daran gehalten.

 

GÜNTHER SPREITZHOFER

Beitragsbild: Shutterstock