Neuer Minimalismus – Darf’s ein bisserl weniger sein?

Minimalismus | Foto: Pixabay
Ausmisten. Ballast abwerfen. Und aufatmen! Warum der Trend zum „Mehr“ ziemlich ausgedient hat und wie man Minimalismus ganz einfach im Alltag umsetzt.

Immer mehr Menschen versuchen momentan, immer weniger Dinge zu besitzen. Zum Beispiel: drei Monate lang nur mit 33 Kleidungsstücken auszukommen. Oder überhaupt nur 100 Dinge zu besitzen – und dabei ist nicht nur Kleidung, sondern auch Haushalt und Kosmetik gemeint. Fakt ist: Die Minimalismus-Welle, die sich in den vergangenen Jahren beständig aufgebaut hat, überschwappt uns von allen Seiten.

Blogger, Influencer und Opinion Leader auf der ganzen Welt machen’s vor, und wir fragen uns: Muss man da mitziehen? Und bringt das wirklich so viel, wie alle tun? Dr. Karin Klug, Minimalismus-Fachfrau aus Graz, klärt uns auf.

Wie sind Sie denn selbst zum Thema minimalistisch(er) leben gekommen?
Karin Klug: Eigentlich aus privatem Interesse. Irgendwann habe ich festgestellt, dass ausmisten und Ballast abwerfen – sowohl materiell als auch in anderen Bereichen – der Seele guttut. Später habe ich dann festgestellt, dass es schon viele Blogs zu diesem Thema gibt und mit „Minimalismus“ schließlich auch einen Namen dazu. Wir leben in einer Gesellschaft des Überflusses, viele haben viel zu viel Besitz, überall herrscht ein Übermaß an Angeboten, auch in der Freizeit. So ein System muss irgendwann einmal kippen! Einst, in Nachkriegszeiten, war es der verständliche Wunsch bzw. das stetige Streben danach, mehr zu schaffen, genug zu besitzen, um sich abzusichern. Jetzt stehen wir an einem Wendepunkt, an dem wir wieder reduzieren müssen – oder besser gesagt wollen.

Woran merkt man überhaupt, dass man zu viel angehäuft hat – im Innen sowie im Außen?
Man hat das Gefühl: Es ist mir alles zuviel. Man hat keinen Moment der Ruhe mehr, strampelt im Hamsterrad, rennt nur noch durchs Leben. Bei vielen meiner Burn-out-Patienten etwa ist ein Zuviel in verschiedenen Lebensbereichen mitverantwortlich für die Krankheit. Bei manchen geht es um Materielles, um Arbeitsüberlastung, bei anderen um Freizeitaktivitäten. Es ist aber auch nicht einfach: Heutzutage gibt es viele schöne Sachen, ständig hat man die Qual der Wahl, muss sich für etwas entscheiden und versäumt gefühlt alles andere.

Nein zu etwas zu sagen, ist schwer. Sich zwischen 100 Möglichkeiten entscheiden zu müssen, stresst aber noch mehr und kostet Unmengen an Energie. Biologisch gesehen sind wir darauf ausgerichtet, zwischen fünf, sechs Dingen zu wählen. Alles darüber überfordert uns, dafür sind wir nicht gemacht.

Wo bzw. mit welchem Lebensbereich fängt man denn am besten mit dem Ausmisten an?
Das ist individuell. Ballast abwerfen geht immer auf mehreren Ebenen. Auf der materiellen Ebene, etwa im Wohnumfeld, wo man die Dinge in die Hand nehmen kann,  ist es am einfachsten. Man könnte zum Beispiel mit einem Raum, einem Kasten oder auch nur einer Schublade beginnen. Strategien gibt es da schon verschiedenste.

Tatsache ist: Fängt man einmal mit dem Ausmisten an, merkt man – wie beim Sport –, dass es sich gut anfühlt, die Energie wieder fließt, das Leben sich ein wenig leichter anfühlt. So bekommt man Lust auf mehr. Und wenn man irgendwann mit dem Materiellen durch ist, kann man sich anderen Bereichen widmen, etwa Terminen oder Beziehungen.

Haben Sie ein paar schnell und ohne viel Aufwand umsetzbare Entrümpelungstipps für zu Hause?
Man kann sich etwa eine zeitliche Begrenzung setzen und dann einmal alles einsammeln, was herumliegt und nicht mehr gebraucht wird. Oder eben eine räumliche Begrenzung definieren: ein Raum, eine Schublade, ein Kasten. Da schaut man dann, was man wirklich braucht und was überhaupt noch funktionsfähig ist. Eine andere Möglichkeit: jeden Tag nur ein oder zwei Dinge ausmisten. Das kann man auch spielerisch als Challenge mit Freunden gestalten. Am besten ausprobieren, was einem persönlich liegt! Wer keinen Plan hat, fängt einfach klein an.

Bei Kleidung gibt es zum Beispiel auch noch diese Methode: Alles aus dem Schrank holen und in drei Haufen sortieren. Einen für das, was man behalten will, einen mit kaputt bzw. passt nicht und einen mit Sachen, bei denen man sich nicht sicher ist. Dieser Haufen kommt dann in einen Karton und man holt nur etwas raus, wenn man es wirklich vermisst. Dabei kommt man schnell drauf, dass einem die meisten Dinge eigentlich gar nicht fehlen.

Welche Auswirkungen darf man sich von einer minimalistische(re)n Lebensweise erwarten?
Ein Gefühl von Freiheit, wieder Zeit haben, mehr genießen, mehr erleben können. Nicht mehr ständig das Gefühl zu haben, sich um so viele Dinge gleichzeitig kümmern zu müssen. Vielen wird während so eines Prozesses auch bewusst: Auch Nein sagen lernen gehört dazu. Man muss beispielsweise nicht noch mehr Überstunden schieben, wenn man beruflich eh schon voll eingeteilt ist – im Gegenteil, man kommt oft mit viel weniger aus. Oft sogar mit weniger Einkommen, dafür im Gegenzug mit umso mehr Zeit und Lebensqualität. Kommt so ein Stein einmal ins Rollen, kann das weitreichende Konsequenzen haben.

Lebt jeder minimalistisch glücklicher oder gibt es auch Menschen, für die sich diese Lebensweise nicht eignet?
Na ja, Hardcore-Minimalismus a la „Ich besitze nur mehr 100 Dinge“ ist sicher nicht jedermanns Glücksrezept. Minimalismus ist ein unglaublich breit gefächerter Begriff, und jeder muss für sich die Lebensform finden, die zu ihm passt. Wichtig ist auch: Entrümpeln allein ist kein Allheilmittel für jegliche Probleme! Hinter krampfhaftem Kaufen und Horten zum Beispiel stecken oft ganz andere Sehnsüchte, die man sich vielleicht gesondert anschauen sollte. Wenn man das Gefühl hat, anzustehen, partout nicht loslassen zu können, oder merkt, dass sich trotz Entrümpeln und Reduzieren nichts tut, kann ein Coach oder ein Psychologe weiterhelfen.



Minimalismus to go

Digital Detox: Ausufernde Smartphone-Surf-Sessions reduzieren – ja, das sollten wir. Wie es leichter funktioniert: Anstatt es stets mit sich herumzutragen, dem Handy einen fixen Platz verpassen. Ist es nicht ständig griffbereit, gewöhnt man sich den ständigen SMS-, Facebook-, Instagram- und Mail-Check schnell ab. Plus: Die Mailbox am Computer regelmäßig aufräumen und unnötige Newsletter (genauso wie Zeitschriften-Abos!) abbestellen.

Deko light: Wer seine Wohnräume mit Unmengen an Dekoration zugepflastert hat, macht am besten die Probe aufs Exempel: Die am wenigsten lieb gewonnenen Sachen in einer Kiste verstauen und schauen, wie man sich mit weniger herumstehenden Dingen fühlt.Vermutlich leichter und klarer im Kopf. Wenn’s funktioniert: gleich weg mit dem Zeug!

Erinnerungen bündeln: Viele Sachen bewahren wir nur auf, weil sie uns emotional etwas bedeuten. Was aber, wenn irgendwann der Platz für all diese Dinge fehlt? Die Lösung: ein Foto davon machen, in einem Erinnerungsalbum sammeln – so trennt man sich gleich viel leichter.

Ich bin’s mir wert: Das „guteGeschirr kommt nur für besondere Anlässe auf den Tisch? Die schöne Unterwäsche trägt man nur in Ausnahmefällen? Stattdessen greift man im Alltag zu Dingen, die man nur so „na jamag oder die eben praktisch sind – und behält sich das Besondere für Gelegenheiten auf, von denen man nicht einmal weiß, ob und wann sie kommen. Ein Klassiker.

Experten raten jedoch: von Haus aus nur die Dinge aufbewahren, die man wertschätzt und schön findet, und diese dann auch benutzen! Fühlt sich fabelhaft an – auch für den Selbstwert. Multitasking, adieu: Haben wir alle schon tausend Mal gehört – es umzusetzen ist dann aber doch eine andere Liga.

Trotzdem: Sich aufs Wesentliche zu konzentrieren und eine Sache nach der anderen zu machen, ist die Instant-Formel für einen ruhigeren Geist. Drum: Nicht vorm Fernseher bzw. Computer essen. Nicht gleichzeitig Mails checken und telefonieren. Und so weiter. Ommmmm.

ANJA FUCHS

 

Mehr Informationen

Dr. Karin Klug
Praxis für Psychologie & Lebensberatung
Klosterwiesgasse 33/I, 8010 Graz
www.klug.or.at

 

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