Eine Woche mit Ritter, Raukar und Ruinen in Gotland

Gotland | Foto: Günter Spreitzhofer

 

Eine legendäre Mittelalterwoche lockt alljährlich im August Hunderttausende in das historische Städtchen Visby auf der schwedischen Ostseeinsel Gotland.

Die Völkerwanderung ist lange vorbei. Doch Wandern bleibt ihnen jedenfalls bis heute nicht erspart. Denn Volvos sind schwieriger zu parken als Schlachtrösser. Zum Beispiel zum Turmblasen in die Domkirche, wo allerlei Schelme in Schnallenschuhen mit der Fanfare Gotlandica die Mittelalterwoche (Medeltidsveckan) feierlich eröffnen. Oder zum Forum Vulgaris, wo es reichlich gaukelig zugehen kann, wenn die Zauberer in ihrem Schlapphut nicht genug Kronen finden.

Gotland | Foto: Günter Spreitzhofer

Lagerleben, Lagerfreuden: Für Speis, Trank und Tanz ist gesorgt – nicht nur in der Mittelalterwoche. Foto: Günter Spreitzhofer

Schmiedehämmer pochen, buntes Volk flaniert, reiht sich geduldig um den Wildschwein-Grill und feilscht mit fremden Kaufleuten um den Preis von Wamsen und Silberhelmen, die polnische Edelmänner in Polski Fiats herbeigeschafft haben: Man will schließlich standesgemäß gekleidet sein, wenn die Stora Gutaweget losgeht, wo sich wuchtige gelbblonde Gotländer in uralten Sportarten wie Baumstammweitwerfen so inbrünstig messen, dass auch nationale Heroen wie Zlatan Ibrahimović ohne Bart recht alt aussehen würden. Gotland, die zweitgrößte Insel der Ostsee, ist rund 180 Kilometer lang, 50 Kilometer breit und höchstens 80 Meter hoch. Wanderurlaub macht hier keiner, warum auch?

Nicht einmal die Hälfte der knapp 60.000 Goten lebt in Visby, der Rest verteilt sich – gemeinsam mit 70.000 Schafen – auf geschichtsträchtigem Boden rundum: mit Steinhügelgräbern und Hunderten Runensteinen, Schiffsetzungen und nordischen Labyrinthen, den dusteren Lummelundagrotten und roten Fischerhäuschen auf Fårö. 800 Kilometer Ostseestrand sind nie weit weg, mit Sand oder einsamen Raukaren (erodierten Kalksteinsäulen), vorbei an schmucken weißen Kirchen: Knapp 100 gibt es, also mindestens alle fünf Kilometer eine, jedenfalls mehr als Ponyhöfe und Golfplätze zusammen.

 

Buntes Treiben in Visby

Visby ist Gotlands einzige Stadt und daher auch die Hauptstadt. Anfang August herrscht hier seit 30 Jahren eine Woche lang Ausnahmezustand: Die engen, kopfsteingepflasterten Gassen der früheren Hanse-Metropole, die seit 700 Jahren von fast vier Kilometer Stadtmauer mit 44 Türmen umgeben ist, sind auch sonst meist autofrei. Doch mit der Ruhe ist es jetzt vorbei: Marketenderinnen reichen im Mittelalterlager Brot und Backwerk, bevor sonntags auf dem Södertorg die farbenprächtige Parade startet: Bürger zu Fuß und Ritter zu Ross, Knechte und Mägde, Musikanten und Gaukler lassen alte Zeiten aufleben, als Visby das wichtigste Handelszentrum für ganz Nordeuropa war – und dummerweise dadurch ein beliebtes Ziel für Dänen, den Deutschen Orden und die Vitalienbrüder, einen Seeräuberverbund, die hier gelegentlich für Schutt und Asche sorgten.

Gotland | Foto: iStock/RPB Media

Über den Dächern von Visby. Foto: iStock/RPB Media

Dänen und Deutsche (meist ohne Orden) plündern heute bestenfalls noch Touristenläden in der Danziger oder der Hamburger Gasse, wie die Gässchen immer noch heißen, und damit leben alle nicht schlecht. Visby, seit 1645 wieder schwedisch, ist seit 1995 UNESCO-Weltkulturerbe und galt zu Blütezeiten als „Königin der Ostsee“: Hunderte windschiefe, efeuüberwucherte Handwerkerhäuser stehen neben prächtigen Gildenhäusern, immer wieder überragt von Ruinen – natürlich gotischer – Klöster und Kirchen.

In der Sankt-Lars-Ruine ist nun Trödelmarkt, in der Ruine Sankt Drotten lässt sich die Schwertkunst – pädagogisch gestützt natürlich – erlernen. Wem das alles nicht reicht, der leiht Mönchskutten und lauscht abends schlüpfrigen Weisen in der Ruine St. Nicolai, bei starken Drinks, stolzen Männern und schönen Frauen, die höchstwahrscheinlich nicht an Pest erkrankt sind, so wie sie aussehen. Oder man mischt sich in das bunte nächtliche Treiben an der Promenade, um brennende Pfeile aufs Meer zu schießen, weit neben die Jachten am Hafen. Oder bildet sich im Kapitalhusgarden kulturell fort, werden dort doch neue Sichtweisen auf mittelalterliche Damenunterwäsche vermittelt, was viele Freizeitritter mächtig zu faszinieren scheint.

 

Gotland bildet: altes Handwerk und berühmte Filmkulissen
Gotland | Foto: Günter Spreitzhofer

Mittelalterliches Treiben in Visby, der Hauptstadt der Goten: Alljährlich im August lässt die Ostseestadt skandinavische Geschichte aufleben. Foto: Günter Spreitzhofer

Wem Überlandpartien und Flanieren für eine ganze Woche nicht aufregend genug ist, der kann Kurse belegen, die er schon immer belegen wollte: Zum Beispiel Kalligraphie mittels Federstiel, die Herstellung von eigenem Renaissance-Perlenschmuck oder Deckensäumen (meistens) für sie, während (oft) er einen Sackpfeifenkurs oder ein Schnallen-Schuhmacher-Seminar besucht und (manchmal) die Kinder am Mittelalterspielplatz Märchen hören oder Jonglieren lernen. Familienurlaub für Nachwuchsrecken eben.

Und abends gibt es dann die Gute-Nacht-Geschichte für Groß und Klein am Lagerfeuer vor der Sankt-Clemens-Ruine, zelebriert vom Nachtwächter, der beim Ritterturnier am Nachmittag vielleicht noch der furchterregende Grüne Ritter war. Oder doch der Rote, der angeblich eine Jungfrau gewonnen hat und sie am Ende der Woche wieder herausrücken muss? Dafür würde schon Pippi Langstrumpf sorgen, die aus den nachmittelalterlichen Fernsehfilmen, deren originale Villa Kunterbunt übrigens immer noch gleich hinter Visby steht. Goten sind stark. Got sei Dank.

 

Gotland
Gotland ist eine schwedische Inselgruppe ist der Ostsee, die neben der Hauptinsel auch kleinere Inseln (z. B. Fårö) umfasst.

Informationen zu Anreise, Unterkunft, Veranstaltungen und Unternehmungen:
www.gotland.com
www.gotland.net
www.destinationgotland.se
https://visitsweden.com/gotland/

Anreise:
Fährverbindungen nach Oskarshamn und Nynäshamn: www.destinationgotland.se/de/Faehre
Überfahrt etwa 3 Stunden; täglich etliche schwedische Inlandflüge nach Visby (via Stockholm)

36. Mittelalterwoche 2018:
5. bis 12. August 2018
www.medeltidsveckan.se

Beitragsbild: Günter Spreitzhofer

 

GÜNTHER SPREITZHOFER