Wärschü- Debüt

„Unreif“ ist nicht gerade das schönste Kompliment. Verjus jedoch steht das Attribut ganz gut. Eine Null-Promille-Story über jungsche Trauben.

Am Weingut Jaunegg trafen Katharina Lackner-Tinnacher (l.) und Linda Böhmwalder (r.) auf das Gastgeberpaar Jasmin und Daniel Jaunegg.

Eigentlich ist das Ganze eine ziemlich praktische Angelegenheit für umsichtige Winzer. Durch das Ausdünnen der Trauben im sommerlichen Weingarten, die sogenannte grüne Lese, wird einerseits die Qualität des Weins verbessert und andererseits liefern die grünen Trauben, die dabei anfallen, die essenzielle Basis für Verjus (ausgesprochen Wärschü). Insbesondere Weinbauern, die biologisch arbeiten, besinnen sich auf den „grünen Saft“, der bereits von ihren ­römischen Vorfahren unter dem Namen „Agrest“ hergestellt wurde. Bis ins 19. Jahrhundert war Agrest als Heil-, ­Säuerungs-­ und Würzmittel bekannt. Dann kamen die Zitronen aus dem Orient und der Saft aus unreifen, noch knackig-hart gelesenen Trauben geriet in Vergessenheit. Die französische Küche hat Verjus nie wirklich vergessen. Dijon-Senf etwa wird bis heute damit hergestellt.

 

„Man sollte Verjus pur verkosten und einen Beutler riskieren.“ –  Katharina Lackner-Tinnacher, Winzerin

Seit rund 15 Jahren stellt Christoph ­Neumeister, ursprünglich hauptsächlich für sein Weingut-Restaurant Saziani Stub’n in Straden, Verjus „vorwiegend aus unbehandelten Heckentrauben“ her. Im Kulinarik­bereich funktioniert Verjus überall dort als raffinierte Alternative, wo Zitrusfrüchte oder Essig nicht harmonieren. Zwischen 800 und 1.300 Liter stellt Neumeister pro Jahr her. Ein Nebenprodukt, das allerdings als histaminfreie, antialkoholische Alternative immer mehr an Bedeutung gewinnt. Bei der VIA-Verkostung am südsteirischen Weingut Jaunegg war Neumeister selbst kurzfristig verhindert, entsandte aber eine Tankprobe seines 2023er-Verjus, die den Anfang setzte, uns auch endlich im Glas auf das Thema zu stürzen.

Stylischer Rahmen, illustre Runde: Die spätsommerliche Verkostung war geprägt von Female Power und Leichtigkeit. Linda Böhmerwalder (l.) und Katharina Lackner-Tinnacher (r.) flankieren das Winzerpaar Jaunegg.

„Gestern erst aus biologisch zertifizierten PiWi-Sorten gepresst“, unterstreicht Katharina Lackner-Tinnacher, selbst Winzerin und zudem Partnerin von Christoph Neumeister. Jene Trauben erfahren weniger Pflanzenschutz und punkten durch eine gute Verfügbarkeit. „Verjus sollte man zuallererst pur verkosten und einen Beutler riskieren“, lächelt Lackner-Tinnacher. Gesagt, getan. Neumeisters Jungspund kommt ob seines 25-prozentigen Säuregehalts erstaunlich saftig daher. Gerbstoffe nehmen wir kaum wahr. Der angekündigte „Beutler“ bleibt aus, sofern man partout nichts in Richtung süß erwartet.

 

„Ja, Verjus ist der neue Säureliebling“, manifestiert Linda Böhmwalder, Allrounderin am Weingut Tement. Selbst kommt sie gerade „vom Weingarten-Hackln und dabei ist Verjus einer meiner liebsten Begleiter, um Durst zu löschen“. Das 1959 gegründete Familienunternehmen Tement produziert gleich zwei Ausführungen von Verjus – Apero und Rosso Rosé. Ersterer beinhaltet in erster Linie Sauvingnon-blanc-Trauben mit Welschanteil. „Der Rosso besteht aus weigelttrauben und einem Cabernet-Anteil“, erklärt Böhmwalder. Die rote Variante, die trotz fehlendem Maischestand im Glas farblich dank Perlmuttreflexen brilliert, scheint insbesondere bei Neo-Verjuslern gut zu funktionieren. „Die milde Säure wirkt hier sicherlich gefälliger“, so der Tenor des Verkosterquartetts. Ist man bereits in den Verjus-Kosmos eingetaucht, glauben wir, in Tements Rosso fast schon Schilchermost-ähnliche Charakterzüge zu erkennen.

„Sortenreiner Verjus könnte ein spannendes Feld werden. Dafür braucht es aber noch mehr Awareness für Verjus auf ­Konsumentenseite.“ – Jasmin und Daniel Jaunegg, Winzer

„Durch die Rosé-Farbe hat man das Gefühl, man hat was Reiferes im Glas“, ergänzt Jasmin, Partnerin von Daniel Jaunegg. Der Apero ist vergleichsweise sehr kräutrig, fast schon almwiesig. „Gut! Wie ein saurer Almdudler“, bricht Jaunegg herunter. Allgemein gesprochen kann Verjus mit bis zu 35 Gramm Weinsäure pro Liter das Zahnfleisch ehrlicherweise durchaus an die Grenzen bringen. Die Regel: Je höher die Säure, desto eher wandert das Anwendungsfeld vom Glas in die Küche. „Ich bin mit Verjus erstmals 2006 in Deutschland in Berührung gekommen. Es ist ein Produkt, das viel Erklärungsbedarf hat. Das Interesse ist in den letzten Jahren stark gestiegen – wohl auch, weil Verjus positive Gesundheitsaspekte zugeschrieben werden“, so Lackner-Tinnacher. Frei von Konservierungsstoffen und reich an Mineralstoffen wie Kalium, Magnesium, Kalzium, schmeichelt Verjus dem Körper zusätzlich dank Oxidantien und ohne künstlichen Zucker. Tipp: das viel beschriebene lauwarme Essigwasser oder Zitronensaftstamperl am Morgen durch Verjus ersetzen. Wirkt genauso ausgleichend, ist milder und man verwendet automatisch ein heimisches Produkt.

„Ich verwende Verjus vor allem als Zitrusersatz in Cocktails und sehr gerne im Tee.“ – Christoph Neumeister, Winzer

In der Unreife liegt die Kraft

Der Gaumen jubelte und das Zahnfleisch war weitaus weniger beleidigt als gedacht: Fünf unterschiedliche Verjus-Varianten prägten die VIA-Verkostung am Eichberg.

Verjus mag kühle Jahre. Ausgebaut wird er im Tank. Die Arbeit vom Weingarten bis zum Keller ist für Winzer nicht weniger aufwendig als bei Wein. „Bis zur Ernte ist Verjus genauso arbeitsintensiv. Man muss schnell und sauber lesen. Dann steht man vor der Frage: filtrieren oder nicht? Schwefelzugaben sind ohnedies nicht erlaubt und auch bei der Pasteurisierung ist viel Feingefühl gefragt“, hält Lackner-Tinnacher fest. „Pro Liter Verjus benötigen wir zwei bis drei Kilo handverlesene Trauben“, untermauert Daniel Jaunegg. Jedes zweite Jahr produziert er den grünen Saft und auch dann nur ein paar Hundert Flaschen. Im Vergleich zu Tement, der mit rund 20.000 Stück jährlich viel Sichtbarkeit am Markt einnimmt, ist er ein kleiner Fisch, doch die Differenzierung ist entscheidend: Jauneggs Verjus aus blauen Wildbachertrauben ist ebenso wie jener des Weinguts Lackner-Tinnacher aus Muskatellertrauben vorrangig als Würzmittel gedacht. Davon braucht man im Normalfall auch viel weniger.

Saures Rindfleisch oder Paradeisersalat mit Verjus, da wären alle vier Verkoster sofort dabei. In Verjus roh marinierter Saibling mit Physalis und ­Zitrus steht aktuell auf der Karte in der Saziani Stub’n. „Oh ja, Ceviche mit Verjus finden wir auch mega“, schwärmt das Gastgeberpaar Jaunegg. Für Neumeister ist der Säureliebling barrelevant – „als Zitronenersatz in Cocktails – Stichwort Dirty Martini oder Averna Sour – oder auch schlichtweg im Tee“. ­Kathi Lackner-Tinnacher setzt Verjus sogar bei Desserts oder süßer Backware ein. „Ich habe beim Risottokochen mal versucht, Wein durch Verjus zu ersetzen – das sollte man lieber sein lassen“, grinst Jaunegg. Nachdem unser Speichelfluss ordentlich gefördert wurde, tunken wir zum Abschluss angeregt Jourgebäck vom südsteirischen Brothof Atschko in Kernöl und Verjus. Wichtiges Fazit: Verjus hat Komplexität. Er ist keinesfalls einfach nur sauer. Die Palette des Frucht-Säure-Spiels ist bei diesem Thema so vielseitig wie beim Wein. Der Wermutstropfen: Angesichts des Klimawandels könnte es dem Verjus an den Kragen gehen. Wärme und unreife Trauben vertragen sich nicht besonders gut. Höchste Zeit, Verjus zu entdecken und sich damit einzudecken.

Noch mehr Verjus aus der Steiermark

Irene Biricz und Markus Steinbäcker sind die Masterminds hinter dem Verjus-Shop Graz und treiben als Experten das Thema seit mehr als zehn Jahren erfolgreich, u .a. mit ihrer Eigenmarke „Vinberg Premium Verjus“, voran.
verjus-shop.com

Auch Michael Wankerl setzt in seiner Gerüchteküche in Graz auf den Einsatz von Verjus. Vorrangig verwendet er Gottfried Lamprechts Buchertberg Verjus Bio Rosé, hergestellt nach historischem Vorbild in Markt Hartmannsdorf.
herrenhof.net

Auch sein Bio-Weingut bringt einen Verjus-Allrounder hervor: Der gebürtige Münchner Holger Hagen macht in der Südsteiermark die milde Säure ohne Erhitzung, nur durch Filtration haltbar. Auch im 6er-Karton erhältlich. holgerhagen.eu

Das Winzerpaar Barbara und Josef Krenn setzen im Vulkanland Verjus in ihrer Buschenschank auch in Verbindung mit Kürbis ein. Ihr Tipp für Gin-Liebhaber: Gin mit Verjus, Roséwein, Soda und frischem Rosmarin probieren! krenn49.at

Von Tina Veit-Fuchs 

Beitragsbilder: Jimmy Lunghammer